Es folgt ein kleiner Exkurs zu den Vätern jener psychologischen Schulen, von denen ich am meisten gelernt, und denen ich vieles zu verdanken habe. Mein expliziter Dank gilt jedoch allen meinen Lehrern und anvertrauten Menschen, unabhängig von der Schulrichtung, von denen ich im Grossen wie im Kleinen lernen und für mein Leben äusserst wertvolle Unterstützung erfahren durfte. Ihnen allen gebührt meine Hochachtung.


Eine Würdigung der Gründerväter der sogenannten Wiener Schulen der Psychotherapie und ihrer Werke

Zu den «Wiener Schulen der Psychotherapie» – einer zusammenfassenden Bezeichnung dreier unterschiedlicher psychologischer Richtungen – gehören:

1. die  Psychoanalyse von Sigmund Freud
2. die Individualpsychologie von Alfred Adler
3. die Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor
    Emil Frankl.

Im Zentrum der Werke dieser drei grossen Psychologen stehen die folgenden Punkte: Freuds Hervorhebung der Sexualität und der Aggression, Adlers Nachdruck auf dem sozialen Streben des Einzelnen und Frankls Betonung der persönlichen Suche nach einem geistigen Sinn.

Jede der drei Lehren ist auch ein Stück weit Zeitgeschichte und handelt von den spezifischen Problemen der damaligen Gesellschaft. Flüchtig und unübersichtlich müssen die Verhältnisse zu jener Zeit gewesen sein. In einer orientierungslosen Gesellschaft mussten Freud, Adler und Frankl wie viele andere auch versuchen, ihr Leben zu retten und das Beste aus ihrer Situation zu machen.

Die Gesellschaft unterliegt dem zeitlichen Wandel – sie ist etwas Veränderliches. Der Mensch jedoch – er ist immer der Mensch. Es lohnt sich allenthalben, von bedeutsamen Zeitzeugen und aussergewöhnlichen Persönlichkeiten etwas zu lernen.


1. Psychoanalyse

Sigmund Freud, (1856-1939), Prof. Dr. med., österreichischer Neurologe und Tiefenpsychologe war Jude, Atheist und Religionskritiker. Er gilt als der Begründer der «Psychoanalyse».

Freud war ein Pionier auf dem Gebiet der Psychotherapie. Er galt als Genie und als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Dennoch werden seine Theorien und Methoden bis heute kontrovers diskutiert.

Ende des 19. Jahrhunderts begann Sigmund Freud mit der Behandlung der weiblichen Hysterie. Kurz darauf bildete sich in Wien der erste Kreis von Freuds Anhängern und Schülern, die die menschliche Persönlichkeit verstehen und von ihren Zwängen befreien wollten, indem sie die Bedeutung von Träumen, Sexualität und Unbewusstem erforschten.

Sigmund Freud definierte zwei Therapieziele, die es bei der Arbeit mit psychisch kranken Menschen zu erreichen gelte: Die Genuss- und die Arbeitsfähigkeit. Wenn es seinen Patienten glücke, diese wieder zu erlangen, dann seien sie gesundet bzw. ins normale Leben zurückgeführt.

Freud führte ein sehr privilegiertes Leben. Er war berühmt und hatte Kontakte zu gesellschaftlich gehobenen, einflussreichen Kreisen. Im Alter machte ihm jedoch nicht nur seine Gesundheit zu schaffen, sondern er war in Sorge um seine Familie und um die Zukunft der Psychoanalyse. So musste er tatenlos zusehen, wie sein Lebenswerk anlässlich der öffentlichen Bücherverbrennung vom Mai 1933 von Zerstörung bedroht war. Angesichts des immer krasseren Zeitgeistes hielt Freud es 1939 für geboten, Österreich fluchtartig zu verlassen. Noch im selben Jahr starb er in seinem Londoner Exil.

Buchempfehlung: «Sigmund Freud: „Selbstdarstellung“. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse» von Sigmund Freud


2. Individualpsychologie

Alfred Adler, (1870-1937), Dr. med., österreichischer Augenarzt, Internist, Neurologe, Psychotherapeut und Pionier auf dem Gebiet der Tiefenpsychologie. Er gilt als der Begründer der «Individualpsychologie».

Er war ursprünglich jüdischer Herkunft, doch als 30-Jähriger konvertierte er zum Protestantismus.

Manche von Adler geprägten Ausdrücke, wie Gemeinschaftsgefühl, Minderwertigkeitskomplex, Geltungsstreben oder Lebensstil sind Teile der Alltagssprache geworden.

Adler vertrat von Anfang an eine personale Auffassung vom Menschen, die ihn grundlegend von Freud und dessen Trieblehre unterschied. 

Er bezeichnete die Individualpsychologie als die folgerichtigste Lehre von der Stellungnahme des Individuums zu den Fragen des Gemeinschaftslebens.

Es genügte Adler nicht, Erscheinungen des Seelenlebens bloss als individuelle anzusehen, sondern er versuchte, diese in ihrem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen und dem wirtschaftlichen Leben zu verstehen.

Kein Mensch, weder der irritierte (verwirrte, unsichere) noch der mehr oder weniger gesunde Mensch, kann sich den Anforderungen der Gemeinschaft oder der Logik des menschlichen Zusammenlebens entziehen. Aufgrund dieser Tatsache schenkt die Individualpsychologie dem Gemeinschaftsgefühl eine grosse Bedeutung. Sie findet, dass jeder Mensch über ein hinreichendes Mass an Mitmenschlichkeit, Beziehungsfähigkeit und Fähigkeit zur Mitarbeit verfügen sollte, um ein erfülltes Leben zu führen.

Im Jahre 1928 umschrieb Adler das Gemeinschaftsgefühl, das in Wirklichkeit viel mehr ist als nur ein (angelerntes) Gefühl, nämlich eine ganz andere Lebensform als bei einem Menschen, den man als antisozial bezeichnen muss, so:

mit den Augen eines anderen sehen,
mit den Ohren eines anderen hören,
mit dem Herzen eines anderen fühlen.

So gesehen, ist die Individualpsychologie eine Sozialpsychologie.

Therapieziel: Das Gemeinschaftsgefühl bietet Ansatzpunkte für Therapie und Hilfe für Menschen, denen es an Verbundenheit mit den Mitmenschen mangelt. 

Adler suchte stets nach gangbaren Mitteln und Wegen, um möglichst vielen Menschen eine psychologische Betreuung zukommen zu lassen. Er stellte sich und seine Schaffenskraft ganz in den Dienst des einzelnen Menschen und des Allgemeinwohls.

Er widmete sich vor allem auch mit grosser Überzeugung der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, und er bekämpfte die Mängel im Erziehungs- und Bildungssystem.

So sind doch die Erfahrungen, die ein Kind in den ersten Lebensjahren macht, entscheidend für das spätere Leben eines Menschen. In der Erziehung werden die Grundlagen des Charakters und der Persönlichkeit gelegt, entstehen Stärken und Schwächen eines Menschen, die später eventuell psychische Probleme verursachen und der Therapie bedürfen. Von Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung sind u.a. die soziale Situation einer Familie, die Stellung eines Kindes in der Geschwisterreihe, das Wohlwollen, die Wertschätzung und das Engagement vonseiten der Eltern einerseits sowie die Interpretationsweise und Eigenaktivität des Kindes andererseits.

Adler baute darauf, dass ein geglückter Erziehungsprozess unweigerlich ein Zusammenleben auf einem höheren gemeinschaftlichen Niveau als heute möglich machen würde.

Er setzte sich dafür ein, dass die Menschheit einmal ihre eigene Natur verstehen lernt und beginnt, deren Erfordernissen gemäss zu leben. Für sein überaus grosses und unermüdliches Engagement gebührt ihm zweifellos ein Platz unter den Humanisten.

Leider setzte der Nationalsozialismus Adlers fruchtbarem  Wirken in seiner Heimat ein tragisches Ende. 1934, nach dem Verbot der sozialdemokratischen Partei in Österreich und nach der Schliessung seiner zahlreichen Jugendberatungsstellen, wanderte Adler aus Angst um sich, seine Familie und sein Lebenswerk in die Vereinigten Staaten aus. Von dort aus setzte er seine Vortragstätigkeit fort, bis der Tod ihn viel zu früh im schottischen Aberdeen mitten aus seinem Schaffen herausriss.

Buchempfehlung:
«Alfred Adler. Triumph über den Minderwertigkeitskomplex», Biographie von Hertha Orgler


3. Logotherapie und Existenzanalyse

Viktor Emil Frankl, (1905-1997), Dr. med. und Dr. phil., war österreichischer Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien sowie 29facher Ehrendoktor. Er war ein liberaler Jude. Zudem war er der Begründer der «3. Wiener Schule der Psychotherapie», der «Logotherapie und Existenzanalyse». 

Begriffe wie «Die Trotzmacht des Geistes» oder das Gewissen spielen eine wichtige Rolle im Werk von Frankl.

«Logotherapie», so nennt sich die psychotherapeutische Behandlungsmethode, bedeutet eigentlich «Heilung durch Sinn» oder «Ganz werden durch Sinn»; unter «Existenzanalyse» versteht man die anthropologische Forschungsrichtung.

Frankls Lehre ist kein Ersatz, sondern eine Ergänzung der bisherigen Psychotherapie. Ihre Grundprinzipien halfen Frankl mit knapper Not den 2. Weltkrieg und zweieinhalb Jahre äusserst leidvoller Haft in vier NS-Konzentrationslagern zu überleben – und dies alles nach einer Kindheit während des 1. Weltkriegs!

Nach Beendigunge seiner Lagerhaft kehrte Frankl nach Wien zurück, wo er einem Freund begegnete, dem er von seinen schrecklichen Erfahrungen berichten konnte. Diese Aussprache machte ihm deutlich, dass er für etwas bestimmt war, dass er noch eine Lebensaufgabe zu erfüllen hatte. Er war überzeugt, dass es einen Sinn haben muss, wenn jemandem solche Dinge zustossen, wenn ein Mensch auf diese Weise auf die Probe gestellt wird. Als Zeitzeuge fühlte er sich verpflichtet, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse und sein Wissen weiterzugeben.

Frankl propagierte eine humane, eine humanisierte, eine rehumanisierte Psychotherapie. Es ist sein Verdienst, dass die spezifisch humanen, die geistigen Aspekte menschlichen Seins in die herkömmliche Psychotherapie integriert wurden.

Trotz all seiner negativen Erfahrungen bewahrte sich Frankl den Glauben an einen heilen Kern im Menschen. Er hielt die Welt nicht für heil, aber für heil-bar. Durch seine ungebrochene Menschlichkeit und Versöhnlichkeit bezeugte er, dass Leben unter allen Umständen gelingen kann.

Therapieziele: Es war ein wichtiges Anliegen von Viktor Frankl, dass psychisch kranke Menschen ihre Liebes-, Arbeits- und Leidensfähigkeit wieder erlangen.

Frankl verfügte über (tragischen) Optimismus, und er hatte auch Sinn für Humor. Seit seinem bahnbrechenden Werk über Humor wurde über dessen Bedeutung in der Therapie und für das psychische Wohlbefinden viel geforscht.

Frankls Lehre hat das klassische Gespräch von Mensch zu Mensch, den sokratischen Dialog, zum Vorbild. Es handelt sich um ein Selbstfindungsgespräch, einen Dialog, der in die Tiefe geht und zutage fördert, was die betroffene Person im tiefsten Innern weiss: wer sie ist, wer sie sein kann, wer sie sein will, was sie für sinnvoll hält, welche Ziele sie hat und welche Werte ihr wichtig sind.

Die der Logotherapie zugrunde liegende Motivationstheorie geht davon aus, dass der Mensch im Grunde ein Wesen auf der Suche nach Sinn ist. Dies bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass Sinn in der Therapie sozusagen verordnet wird; vielmehr wird der Frage nachgegangen, wie es der Mensch tatsächlich zustande bringt, Sinn zu finden. Aufgrund der empirischen Forschung von Logotherapeuten in aller Welt stellt sich heraus, dass es – entgegen dem Sinnlosigkeitsgefühl – eigentlich keine Situation gibt, die letzten Endes nicht doch eine Sinnmöglichkeit böte.

Buchempfehlungen:
«... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager», Autobiographie von Viktor Emil Frankl

«Das Leben wartet auf Dich: Elly & Viktor Frankl», Biografie von Haddon Klingberg, Jr.

Die «Wiener Schulen der Psychotherapie»

Foto „Wildgänse“

Manche Menschen wissen nicht,
wie wichtig es ist, dass sie einfach da sind.

Manche Menschen wissen nicht,
wie gut es tut, sie nur zu sehen.

Manche Menschen wissen nicht,
wie tröstlich ihr gütiges Lächeln wirkt.

Manche Menschen wissen nicht,
wie wohltuend ihre Nähe ist.

Manche Menschen wissen nicht,
wie viel ärmer wir ohne sie wären.

Manche Menschen wissen nicht,
dass sie ein Geschenk des Himmels sind.

Sie wüssten es, würden wir es ihnen sagen.


Paul Celan

Wenn es einem nicht gut geht, dann beginnt die wahre Kunst, dem Leben noch einen Funken Güte abzuringen!

Elisabeth Lukas

© Foto „Sonnenröschen“:
B. Hartmann

© Foto „Wegwarte“: E. Frey

© Foto „Löwenzahn“, inmitten von „Gundermann“: B. Hartmann

Kultur ist nicht dazu da, die Realität zu vergessen, sondern um eine grössere Realität zu schaffen.

Sigmund Freud

Das Bewusstsein, einer sinnvollen Aufgabe zu dienen, hat krankheitsverhütende und

gesundheitsfördernde Wirkung.

Viktor E. Frankl

Das eigentliche Ziel der Wissenschaft von Seele und Geist des Menschen kann nur sein, dass die menschliche Natur von jedem Menschen verstanden wird. Die Anwendung dieser Wissenschaft soll jeder Menschenseele Frieden bringen.


Alfred Adler

Das Los des Menschen scheint zu sein nicht Wahrheit,  sondern Ringen nach Wahrheit, nicht Freiheit und Gerechtigkeit und Glückseligkeit, sondern Ringen danach.

Johann Gottfried Seume

Zivilisation bedeutet, sich gegenseitig zu helfen, von Mensch zu Mensch, von Nation zu Nation.

Henry Dunant